
Auf Tuchfühlung mit Transcreation
Von den vielen Dingen, die ich tue, ist Transcreation sicherlich der Bereich, der die meisten Personen fasziniert – wohl auch, weil die Bedeutung und die genauen Anwendungsfelder nicht eindeutig abgegrenzt sind.
Der italienische Konferenzdolmetscher und Übersetzer Fulvio Novì ist Mitglied bei CIT – Collettivo Interpreti e Traduttori, einem Netzwerk junger, freiberuflicher Dolmetscher und Übersetzer. Für den Blog auf deren Homepage hat er mich gebeten, einige Fragen zum Thema Transcreation zu beantworten. Das Interview gefällt mir sehr gut, daher habe ich es ins Deutsche übersetzen lassen. Hier finden Sie den Artikel im Original auf Italienisch.
Transcreation – ein Interview mit Claudia Benetello
von Fulvio Novì | 23 Mai 2020
Mit dem heutigen Artikel möchten wir von CIT einmal über ein etwas anderes Thema sprechen. Wir hatten bereits seit längerer Zeit vor, detailliert über Transcreation, einen der faszinierendsten und komplexesten Bereiche der großen weiten Welt der Übersetzung zu sprechen, und hierfür haben wir eine der bekanntesten Expertinnen in diesem Sektor interviewt. Claudia Benetello.
Zu Beginn können wir festhalten, dass sie einen wirklich besonderen und sehr vielfältigen Ausbildungsweg durchlaufen hat. Nach ihrem Studienabschluss in Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Kommunikation absolvierte sie ein Masterstudium in Musikkommunikation für die Musikindustrie und Medien, einen Fachkurs zu Dolmetschtechniken Italienisch <> Englisch und einen Master-Abschluss in Texten und Werbekommunikation.
Und abschließend wollen wir auch noch erwähnen, dass sie Mitglied im italienischen Journalistenverband ist. Sie ist also sehr vielseitig und ihre Vision von Kommunikation umfasst 360 Grad – was auch das Interview wirklich äußerst angenehm und interessant gemacht hat. Aber ich möchte Ihnen nicht noch mehr Zeit rauben – los geht’s mit den Fragen!
Wie würdest du Transcreation definieren?
Vorab möchte ich sagen, dass es keine feste, universell akzeptierte Definition gibt. Meine Definition lautet wie folgt: “einen Promo- oder Werbetext für einen spezifischen Markt ausgehend von einem Ursprungstext schreiben, als wäre der Zieltext in der Zielsprache und -kultur entstanden”. Ich möchte versuchen, Punkt für Punkt zu erklären, was ich damit meine:
- “Schreiben” und nicht “übersetzen”, weil es manchmal notwendig sein kann, den Text neu zu schreiben und ihn nicht einfach von einer Sprache in die andere zu übertragen. Und mit “den Text neu schreiben” meine ich zum Beispiel das, was ich bei dem Claim von Norton™ AntiVirus gemacht habe.
- “Einen Promo- oder Werbetext”, weil meiner Meinung nach Transcreation nur die Texte betrifft, die jemanden von etwas überzeugen möchten und nicht nur einen reinen Informationszweck haben.
- “Für einen spezifischen Markt”, weil es nicht ausreichend ist, nur von der „Zielsprache“ zu sprechen. Sowohl in Québec wie in Frankreich wird beispielsweise französisch gesprochen, aber es handelt sich um unterschiedliche Märkte, die höchst vermutlich beim Entwurf einer Werbung unterschiedliche Entscheidungen voraussetzen.
- “Ausgehend von einem Ursprungstext”, weil das Schreiben eines Promo- oder Werbetextes ohne dabei von einem Ursprungstext auszugehen, Copywriting ist und nicht Transcreation. Hier möchte ich aber hinzufügen, dass im Ausland der Begriff Copywriting oft sowohl das Neuschreiben (Text) als auch Transkreation beinhaltet.
- “Als wäre der Zieltext in der Zielsprache und -kultur entstanden”, weil die Zielpersonen das Gefühl haben sollen, dass diese Werbung genau sie anspricht, auch wenn es sich um die lokale Variante einer globalen Kampagne handelt, die also in allen Ländern der Welt gleich ist.
Welche Kompetenzen muss man für die Arbeit im Bereich Transcreation haben?
Ich habe vier Kompetenzen ausfindig gemacht:
- Sprachliche Kompetenz in dem Sinne, dass jede Bedeutungsnuance linguistischer und kultureller Art des ursprünglichen Textes erfasst wird. Auch in diesem Fall glaube ich, dass der Claim “Boldly Go” von Norton™ AntiVirus ein besonders gutes Beispiel ist.
- Schreibkompetenz im Sinne von Copywriting: da der Ausgangstext tatsächlich manchmal nicht übertragen werden kann, sondern neu geschrieben werden muss, muss man die Fähigkeit besitzen, eine Copy (also einen Werbe- oder Promotext) neu zu texten.
- Kulturelles Fingerspitzengefühl im Sinne einer tiefgehenden Kenntnis der Zielkultur, um einen zur Zielgruppe passenden Text kreieren zu können.
- Kenntnis des Zielmarktes im Sinne der Kenntnis des Werbemarktes im Zielland. Um es maximal vereinfacht zu sagen: jede Marke versucht, auf möglich einzigartige Weise zu kommunizieren und sich von anderen zu unterscheiden, und die Adaptation einer Werbung setzt zumindest voraus, dass man auch die Kommunikationsart seiner Mitbewerber kennt.
Welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten gibt es bei Übersetzen und Transcreation?
Es fällt mir etwas schwer, diese Frage zu beantworten, weil jeder etwas anderes unter „Transcreation“ versteht. Viele Übersetzer bieten auch Transkreation als Service an und sogar auch Post-Editing.
Im Allgemeinen bestehen die Anknüpfungspunkte meiner Meinung nach in der ersten Kompetenz, die ich genannt habe. Sowohl ein Übersetzer als auch ein Experte für Transcreation arbeiten mit einem in einer anderen Sprache geschriebenen Text und müssen einen Text in der Zielsprache verfassen.
Der Hauptunterschied liegt meiner Meinung nach hingegen in der zweiten Kompetenz. Ein Fachübersetzer im Bereich Medizin oder Recht muss natürlich keine Kompetenz im Copywriting besitzen – wofür sollte er eine Broschüre neu schreiben können oder auch eine Anzeige für Printmedien, wenn er doch klinische Studien oder Strafurteile übersetzt? Etwas anderes ist es aber, wenn man sich mit Werbung befasst.
Aus welchen Phasen besteht die Arbeit der Transcreation?
Ich bin der Meinung, dass Transcreation eine Beratungsleistung ist, und nicht so sehr eine sprachliche Dienstleistung im eigentlichen Sinne. Transkreation kann auch Tätigkeiten beinhalten, die nicht die Übertragung eines Textes in eine andere Sprache betreffen, wie zum Beispiel eine cultural consultation oder auch die Synchron- und Sprachregie im Tonstudio.
Aber wenn wir nur eine sprachliche und interkulturelle Anpassung eines Textes und den üblichen Verlauf der Transcreation einer Headline (Überschrift), eines Claims oder eines Slogans betrachten, würde ich nichtsdestotrotz folgende Phasen herausstellen:
- Briefing: der Transcreationexperte erhält ausführliche Informationen über den Auftrag. Für die Transcreation eines “kurzen Satzes” wie “Boldly Go” oder “Go boldly, not blindly” muss man natürlich nicht nur das Produkt kennen, sondern auch den Tonfall der Marke und die Bedeutung, die hinter diesem Claim steckt.
- Analyse: Werbung besteht aus Worten und aus Bildern und der Transcreationexperte muss beide analysieren bevor er anfängt zu schreiben.
- Brainstorming: das ist der Moment, an dem der Transcreationexperte damit beginnt, alle Vorschläge, die ihm einfallen, aufzuschreiben, ohne jegliche Eigenzensur.
- Auswahl: nach erneuter Kontrolle des Briefings wählt der Transcreationexperte die treffendsten Vorschläge aus. Ich benutze hier den Plural, weil bei einer Transcreation normalerweise mehrere Optionen für eine Headline oder einen Claim vorgeschlagen werden.
- Rückübersetzung und Erläuterungen: der Transcreationspezialist übersetzt seine Vorschläge wortwörtlich in die Ausgangssprache und erläutert dabei seinen Ansatz. So kann auch das Mutterhaus des Unternehmens, für das die Werbung entsteht, beurteilen, in welche Richtung die Umsetzung der Headline oder des Claims vor Ort geht.
- Feedback und Änderungen: der Transcreationsexperte bespricht mit dem Kunden die Vorschläge und erstellt dann den endgültigen Text.
Welches waren denn deine spannendsten Transcreation-Aufträge?
Was Promotexte betrifft, auf jeden Fall die Technoform-Broschüre, weil das meiner Meinung wirklich eine Best Practice darstellt. Ein B2B-Unternehmen kreiert eine Broschüre so, als ob es ein B2C wäre – also in einem sehr direkten und ansprechenden Tonfall – und in der italienischen Version erfolgt die Transcreation mit mehreren Vorschlägen, Rückübersetzung und Erläuterungen. Chapeau!
Was hingegen Werbung im eigentlichen Sinn betrifft, würde ich sagen die Headline von The Boys. Ein auf den ersten Blick banaler Satz, den auch ein Schulkind ohne Wörterbuch übersetzen könnte, muss einen ganz anderen Ansatz haben und anders bearbeitet werden, wenn er auf ein Plakat gedruckt wird. Und diese Headline ist ein Paradebeispiel dafür.
Im Bereich der Übersetzungen vollzieht sich inzwischen seit Jahren ein unvermeidlicher Prozess technologischer Transformation, zuerst mit dem Aufkommen der CAT-Tools und dann mit MTPE. Wirkt sich diese Tendenz auch auf Transcreation aus? Und wenn ja, wie?
Ich glaube nicht, dass sie sich auf die Werbe-Transcreation auswirkt. Aber in diesem Bereich gibt es vielleicht noch eine andere Tendenz, die noch tückischer ist. Da es sich im Allgemeinen um Texte ohne spezielle Fachterminologie handelt, vor allem bei B2C, neigt man dazu zu glauben, dass jeder, der Englisch kann, damit arbeiten könne. Also so, als ob die Schwierigkeit eines Textes nur eine Terminologiefrage sei.
Und leider ist dieser Ansatz sehr weit verbreitet, nicht nur bei den Unternehmen, sondern auch bei Übersetzern und Textern. Ich bin dagegen felsenfest davon überzeugt, dass für Transcreation eine doppelte Kompetenz notwendig ist, nämlich die des Übersetzens und die des Copywritings.
Außer deiner Arbeit im Bereich Transcreation bist du auch Texterin, Dolmetscherin und Journalistin. Haben dir deine vielen und unterschiedlichen Kompetenzen und die Tatsache, dass du dich mit so vielen Aspekten der Kommunikation befasst, bei deinem Ansatz zur Transcreation weitergeholfen?
Wenn es etwas gibt, auf das ich besonders stolz bin, dann genau die Tatsache, dass ich „auf beiden Seiten der Barrikade“ Erfahrungen gesammelt habe. Als Übersetzerin übersetze ich Pressemeldungen, aber als ich als Freelance-Pressereferentin arbeitete, habe ich die Pressemitteilungen selber geschrieben.
Als Dolmetscherin übersetze ich live für Journalisten bei Pressekonferenzen, aber an dieser Art von Pressekonferenzen habe ich zuerst als Journalistin teilgenommen.
Als Spezialistin für Transcreation adaptiere ich Promo- und Werbetexte aus dem Englischen und dem Deutschen ins Italienische, aber als Texterin verfasse ich diese Texte auch ganz neu. Natürlich ist mir diese Fähigkeit auch bei der Transkreation eine große Hilfe.